Grundaspekte der Symbiose

Schematisch kann man drei Grundaspekte der Autonomie unterscheiden:

  • Die Abgrenzung, die Fähigkeit, zwischen Eigenem und Fremden zu unterscheiden und gegenüber anderen Menschen und fremden Problemen eine gesunde innere Distanz zu bewahren.
  • Das ermöglicht „Selbst-Verbindung„, d.h. mit sich selbst, mit den eigenen Gefühlen, Bedürfnissen, mit der eigenen Wahrnehmung verbunden zu sein.
  • Um das aufrecht zu erhalten, bedarf es einer „gesunden Aggression„. Dazu gehört die Fähigkeiten, sich selbst und die eigenen Grenzen zu schützen, aber auch Eigenes zu verwirklichen und dabei auf Menschen und Probleme zu gehen zu können („aggredi“, lateinisch: auf etwas zugehen).

Die so verstandene Autonomie ermöglicht ein selbstbestimmtes, stressarmes Leben, und eine partnerschaftliche ICH-DU-Beziehung, die von gegenseitigem Respekt und Anziehung bestimmt ist und klärende Auseinandersetzungen ermöglicht. Das ist der Unterschied zu einer symbiotisch bestimmten Beziehung mit Abhängigkeit und Ko-Abhängigkeit, mit gegenseitiger subtiler Manipulation und Abwertung.

Wir alle haben das Potential, die Voraussetzungen für das „Autonomieprogramm“, aber wir müssen es erst entwickeln. Zu Beginn unseres Lebens sind wir klein, extrem hilflos, abhängig von der Zuwendung der Mutter. Mutter und Säugling sind in ihrem Verhalten von einem „Symbiose-Programm“ bestimmt. (Symbiose: griechisch „sym“ = zusammen, „bios“ = leben).

Das „Symbiose-Programm“

Der Embryo ist mit der Mutter verbunden in einer engen (gesunden) Symbiose (griechisch „sym“ = zusammen, „bios“ = leben).

Schematisch vereinfacht kann man bei der Mutter-Säuglings-Symbiose drei Grundaspekte unterscheiden:

  • Eingeschränkte Abgrenzung: Die Mutter erlebt sich zunächst als eins mit dem Säugling, als nicht getrennt.
  • Distanz zu eigenen Bedürfnissen: Die Mutter ist mit ihrer Wahrnehmung, ihrem Denken und Fühlen ganz auf den Säugling eingestellt. Sie orientiert ihr eigenes Verhalten zunächst an den Bedürfnissen des Säuglings, stellt ihre eigenen Bedürfnisse zurück.
  • Unterdrückung aggressiver Impulse: Die Sorge für den hilflosen und bedürftigen Säugling fordert die Mutter extrem. Das kann aggressive Impulse auslösen, die sie dem Säugling gegenüber unterdrückt, um ihn nicht zu verletzen.

Jedoch bereits 2 Monate nach der Geburt kann der Säugling zwischen sich und der Mutter unterscheiden! (Martin Dornes, Der kompetente Säugling)
Trotz-Phase und Pubertät sind weitere wichtige Phasen in der Entwicklung zur eigenen Autonomie.
Die Autonomie-Entwicklung, die Entwicklung des „Autonomie-Programms“ ist jedoch sehr störanfällig.

Das „fixierte“ Symbiose-Programm

Ein wichtiger Faktor ist die Haltung der Eltern, besonders der Mutter: je mehr sie selber ihre eigene Autonomie entwickeln konnte, umso mehr kann sie ihr Kind dabei unterstützen. Wenn sie jedoch selbst durch frühe Verlusttraumen in ihrer Autonomie-Entwicklung stecken geblieben ist, dann tendieren sie dazu, ihr Kind – unbewusst! – für ihre eigenen unerfüllten Bedürfnisse in Anspruch zu nehmen. Die Autonomie-Tendenzen ihres Kindes erleben sie dann vielleicht als gefährlich, sie reagiert darauf vielleicht mit Angst oder Abwehr, oder mit dem Entzug ihrer Zuwendung (Liebe). Das ist wiederum für das Kind bedrohlich, da es ja klein und abhängig und auf Zuwendung angewiesen ist. Um zu überleben, identifiziert es sich mit den Erwartungen und Wünschen der Eltern und entwickelt so ein „falsches Selbst“. Die eigenen Bedürfnisse nach Autonomie, nach Selbstbestimmung und Abgrenzung empfindet es als gefährlich und unterdrückt sie deshalb.

Unbewusste Blockade des Autonomie-Programms

Es sind zwei sehr heftige Gefühle, welche die Entwicklung von Abgrenzung und Selbstbestimmung blockieren können:

  • Die lebensbedrohliche Angst, sich durch Abgrenzung und Selbstbestimmung selbst zu isolieren, sich abzuschneiden von der Verbindung mit Anderen, und dadurch die eigene Lebensfähigkeit zu verlieren.
  • Und/Oder ein lastendes Gefühl von Schuld, so als würde man durch Abgrenzung und Selbstbestimmung den anderen verletzen, ihn im Stich lassen, verraten, ihm seine Lebensgrundlage entziehen.

Diese heftigen Gefühle sind sehr früh erworben und daher überwiegend unbewusst, gespeichert im „emotionalen Körpergedächtnis. So bestimmen sie mit ungebremster Wucht als „unbewusstes Abgrenzungsverbot“ oder als „verinnerlichtes Autonomieverbot“ das Verhalten des Betroffenen.

Das fixierte und daher destruktiv gewordene Symbiosemuster blockiert das Autonomie-Programm, es prägt alle späteren Beziehungen, zu Partner und Kinder, sogar zur Arbeit (workoholic, burn-out)!

Andere Ursachen fuer ein „blockiertes Autonomie-Programm“

Neben der nicht gelungenen Ablösung von einer traumatisierten Mutter gibt es weitere frühe Beziehungserfahrungen, die ein fixiertes Symbiosemuster auslösen und dadurch eine Autonomie-Entwicklung blockieren können. Sie sollen hier kurz erwähnt werden:

  • Früh (vor der Ablösungsphase der Pubertät) erlebter Verlust einer Bezugsperson, durch Trennung oder Tod.
  • Frühe Erfahrung von Gewalt und sexuellem Übergriff.
  • Die unbewußte symbiotische Identifizierung mit einem ungeborenen oder früh verstorbenem Geschwister.

Jedes dieser Symbiosemuster hat eine eigene, etwas andere Färbung. Die Lösung dieser Symbiosemuster bedarf therapeutischer Erfahrung.

ASPEKTE DER DESTRUKTIVEN (FIXIERTEN) SYMBIOSE

Oben wurden die drei Autonomie – Aspekte erwähnt. Deren Einschränkung durch das Symbiosemuster ergibt die drei primäre Aspekte der fixierten Symbiose.

Primäre Aspekte der Symbiose

  • Verminderte oder fehlende Abgrenzung bedeutet Überanpassung bis hin zu Verschmelzung.
  • Verminderte oder fehlende Selbst-Verbindung zeigt sich in der Unterdrückung, oder Abspaltung eigener Gefühle, Bedürfnisse, der eigenen Wahrnehmung und führt zu Selbst-Entfremdung.
  • Blockierte Aggression heisst Aggressions-Stau. Die Betroffenen „wissen mit ihrer Aggression nichts anzufangen“, sitzen „auf einem Pulverfass“, haben Stress.

Diese drei Aspekte machen den Symbiose-Komplex aus. Sie verstärken sich gegenseitig: eine Tendenz zu Überanpassung verstärkt die Selbst-Entfremdung und umgekehrt! Das macht das Symbiosemuster zur Falle.

Die Verwirrung der Symbiose

kann man verkürzt so beschreiben:

Der Betroffene identifiziert sich mit Fremden – anstatt sich ihm gegenüber abzugrenzen. Und statt sich mit dem Eigenen zu identifizieren, grenzt er sich ihm gegenüber ab, als sei es gefährlich oder verboten!

Daraus ergibt sich das

Dilemma der Symbiose:

In der Nähe zum Gegenüber verliere ich die Verbindung zu mir selber.

Um mich selber zu spüren, muss ich auf Distanz zum Gegenüber gehen. So als sei es nicht möglich, gleichzeitig die Nähe zum anderen und zu mir zu haben. Das hin und her Pendeln zwischen diesen Extremen ist extrem belastend, für alle Beteiligten.

Der Symbiose-Komplex führt auch in Beziehungen zu massiven Problemen, zu gegenseitigen Manipulationen, Abhängigkeiten, zu Verletzungen und Enttäuschungen. Um weitere Verletzungen zu vermeiden, entwickeln die Betroffenen „symbiotische Kompensationsstrategien“, oder sekundäre Symbiose-Aspekte:

Sekundäre Symbioseaspekte

  • Überanpassung schlägt um in Überabgrenzung: Kontaktabbruch, Unterdrückung von Mitgefühl.
  • Selbst-Entfremdung schlägt um in egoistisches, ja egozentrisches Verhalten, in Dominanz und Manipulation. Um selbst nicht manipuliert oder abhängig gemacht zu werden, versuchen die Betroffenen, andere zu manpulieren und abhängig zu machen.
  • Die gestaute Aggression wird zerstörerisch, destruktiv. Destruktive Aggression kann sich gegen sich selbst (Selbstschädigung, psychosomatische Erkrankungen) oder gegen andere richten (Hass, seelische und körperliche Verletzungen).

Diese Kompensationsstrategien überlagern und überformen die primären Symbiose-Aspekte bis zur Unkenntlichkeit.

Kollektive Aspekte des Symbiosemusters

So wie das Symbiosemuster am Beginn der individuellen Entwicklung steht, so gab es möglicherweise auch in der Frühphase der Menschheitsgeschichte eine „kollektive Symbiose“. Die ersten menschlichen Gruppen waren nur als Clan überlebensfähig. Es war buchstäblich lebensgefährlich, sich selbst als getrennt vom Clan wahrzunehmen. Der einzelne identifizierte sich daher mit dem Clan.

Das Bewußtsein, auch als Einzelner, als Individuum vollständig zu sein, entwickelte sich erstmals vor ca. 4000 Jahren in Griechenland. Der „listenreiche“ Odysseus, dessen abenteuerliches Leben Homer vor 3000 Jahren besang, war eines der ersten Beispiele für dieses neue Bewußtsein, das mit Abgrenzung und Selbstbestimmung einhergeht.

Aber wieviele – besser gefragt, wie wenige? – haben heute, nach 3000 Jahren, ein solches Bewusstsein entwickelt?